"TANZ DER KULTUREN : ZWISCHEN TRADITION UND MODERNE"
Vorwort und Eröffnungsrede zum Tanztheaterfestival 1999 von
Dr.Franklin Rodriguez

"TANZ DER KULTUREN : ZWISCHEN TRADITION UND MODERNE"

(Vorwort Programmheft)

Zum 4. Mal gelingt dem Freien Theater Studio die Organisation eines Internationalen Tanztheaterfestivals in Schwerin. "Tanz der Kulturen - Zwischen Tradition und Moderne"- lautet das Motto des diesjährigen Festivals, das eine Brücke schlägt zwischen dem kulturellen Erbe verschiedener Kulturen und modernen Tendenzen des Tanztheaters der Gegenwart.

75 Künstler aus 20 Ländern geben einen kleinen Einblick in die bestehende Vielfalt von künstlerischen Strömungen, die sich nur schwerlich auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Deutlich wird auf jeden Fall die weite Verbreitung von Tanztechniken ganz unterschiedlicher kultureller und geographischer Herkunft, wie z. B. des amerikanischen Modern Dance, des deutschen Ausdruckstanzes und vor allem der Ansätze von Pina Bausch, ohne die das aktuelle Tanztheater undenkbar wäre. Mit diesen Grundlagen werden die regionalen und lokalen Traditionen verknüpft, um die Hoffnungen und Probleme der Gegenwart auszudrücken.

Die heute oft als Bedrohung empfundene Globalisierung, die Grenzen und Entfernungen abschafft, Kommunikation wie nie zuvor ermöglicht und gleichzeitig in einer Informationsflut ertränkt, das Individuum pausenlos mit Schreckensmeldungen und Werbeslogans bombardiert... dieselbe Globalisierung hat im Bereich des Tanztheaters eine durchaus positive Wirkung, indem sie Künstler der unterschiedlichsten und entferntesten Kulturen einander näher bringt. Dieser Prozess wird weiterhin unterstützt durch die intensive Zusammenarbeit von Künstlern unterschiedlicher Kontinente, die Verbreitung durch die Medien und die Realisierung zahlreicher Tanztheaterfestivals, Tourneen etc. Das Kennenlernen führt sichtbar zu gegenseitiger Bereicherung und gleichzeitig zur gemeinsamen Suche nach neuen Wegen .

Anders als in der Welt der Wissenschaft oder der normalen Logik, der Statistik oder der Soziologie versucht das Tanztheater oft, die Gefühle der Zuschauer sinnlich anzusprechen- ohne den Umweg über das Rationale. Die Antworten, die das Tanztheater zu geben versucht, sind in Bilder und Metaphern gekleidet- ahnungsvolle Andeutungen, Herausforderungen, Provokationen, die den Zuschauer zum eigenen Nachdenken anregen.

An der Jahrtausendwende besinnt sich das Tanztheater auf die ursprüngliche Kraft der Bewegung, die Energie, die spontane, direkte, natürlich fließende Bewegungen ausstrahlen. Um diese Kraft wiederzuerlangen, ist das Tanztheater bestrebt, sich von Ballast wie technischen Einengungen oder künstlichen Kodifizierungen zu befreien. Dabei löst es die Grenzen zu anderen Gattungen auf und verwandelt sich in eine interdisziplinäre Kunst. Andere Gattungen wie z. B. Literatur, Pantomime, Film,. Video...etc, Sprechtheater, Oper, ... werden bei Bedarf problemlos auch im Tanztheater angewandt. Im selben Zusammenhang vollzieht sich auch eine deutliche Hinwendung zur Individualität: Der Tänzer ist jetzt ein Individuum, genau wie im modernen Theater ist das Individuum Dreh- und Angelpunkt des Geschehens auf der Bühne. Tänzer und Schauspieler sind keine bloßen Werkzeuge des Choreographen oder Regisseurs mehr, sondern werden zu Schöpfern, deren eigene Persönlichkeit, Erfahrungswelt, Phantasie ... Ausgangspunkt der Inszenierung sind. Auch das (im Theater) seit längerem bekannte und angewandte Konzept des "Offenen Kunstwerks", nach dem die Inszenierung erst in der Phantasie des Zuschauers, im Moment der Wahrnehmung ihren Abschluss findet, hat längst auf das Tanztheater übergegriffen.

Die internationale Entwicklung im Bereich des Tanztheaters hat auch bei mecklenburgischen Tanzkompanien ihre Spuren hinterlassen. Dies zeigt sich im Rahmen des Festivals an den Beiträgen der Deutschen Tanzkompanie und des Ballettensembles des Staatstheaters Schwerin.

Neu ist in diesem Jahr die Wahl der Aufführungsorte: Aufgrund der Größe der Produktionen entschieden wir uns beim Hauptteil der Veranstaltungen für die Halle am Fernsehturm, die nicht nur eine große Bühne, sondern auch besonders gute Sichtmöglichkeiten bietet. Wir hoffen, dass unsere Zuschauer uns auch in diesen Räumlichkeiten die Treue bewahren und freuen uns, in diesem Jahr niemanden mehr aus Platzgründen Hause schicken zu müssen.

Ein großes Dankeschön an alle Förderer und Sponsoren, die mit ihrer Unterstützung dieses Festival erst ermöglichten.


Dr. Franklin Rodríguez Abad

4. Internationales Tanztheaterfestival 1999 des Freien Theater Studios.

"Tanz der Kulturen: Zwischen Tradition und Moderne"

Eröffnungsrede von Dr. Franklin Rodríguez Abad -
Halle an Fernsehturm (21. 10., 99)

Guten Abend, meine Damen und Herren,

heute beginnen wir unser 4. Internationales Tanztheaterfestival. Noch vor Jahren schien es, als wäre es für das Tanztheater sehr schwierig, in Schwerin Fuß zu fassen. "Für Pantomime und Tanztheater interessieren die Leute sich hier nicht", sagte man uns, "das hat hier keine Tradition". Nun, wir dachten, wo es keine Tradition gibt, kann man vielleicht eine schaffen- und wenn wir im Juni unser 3. Internationales Pantomimefestival hatten und ich Sie heute schon zu unserem 4. Internationalen Tanztheaterfestival begrüßen darf, dann sieht das schon ein bißchen nach einer Tradition aus, nicht wahr?

75 Künstler aus 20 Ländern von 3 Kontinenten nehmen am diesjährigen Festival teil. Noch nicht alle Menschen reagieren erfreut, wenn sie vom Zuzug von Ausländern, von fremdländischen kulturellen Einflüssen oder gar den Effekten der Globalisierung hören. Sie befürchten Verarmung und kulturelle Entfremdung von der eigenen Kultur. Das Gegenteil ist jedoch der Fall:

Für die weltweite Entwicklung des Tanztheaters hat sich die vielgeschmähte Globalisierung als sehr günstig erwiesen. Über die heutzutage ultrakurzen Wege der Kommunikation lernen Künstler aus aller Welt einander kennen und schätzen, Tanztechniken werden verbreitet oder sogar interkulturelle Gruppen gebildet, in denen Künstler aus verschiedenen Ländern mit ganz unterschiedlichen kulturellen Wurzeln erfolgreich zusammenarbeiten, ohne in irgendeiner Form ihre Herkunft oder Kultur zu verleugnen.

Jorge Luis Borges, der berühmte argentinische Dichter, der viele Jahre seines Lebens in Europa verbrachte und 1999 100 Jahre alt geworden wäre, beschreibt eines seiner diesbezüglichen Schlüsselerlebnisse folgendermaßen: " Nachdem ich in so vielen europäischen Städten gelebt hatte, überraschte es mich zu bemerken, dass meine Geburtsstadt gewachsen war, dass sie jetzt riesig war, sich fast unendlich Richtung Sonnenuntergang erstreckte, weit in die Pampa. Das war mehr als nur eine Rückkehr, es war eine Entdeckung. Jetzt konnte ich Buenos Aires klar und deutlich vor mir sehen, gerade weil ich so lange fern von ihr (der Stadt B. A.) gewesen war. Wäre ich niemals ins Ausland gegangen - ich frage mich, ob ich sie mit der Kraft und dem Glanz hätte sehen können, die ihre Erscheinung jetzt in mir hervorrief. Die Stadt - nicht die ganze Stadt natürlich, sondern einige Orte, die ich als ganz besonders aufregend empfand - inspirierte mich zu den Gedichten meines ersten Buches. "

Einen ähnlichen Effekt erhoffe ich für uns alle beim "Tanz der Kulturen": Nachdem wir einen aufmerksamen Blick auf die künstlerischen Produktionen geworfen haben, die aus anderen Kulturen erwachsen sind, wird ein jeder seine eigene Kultur umso besser kennen uind mit neuen Augen betrachten. Vielleicht werden wir mit Staunen ungeahnte Gemeinsamkeiten entdecken- schließlich entspringt unser aller Wirken der universalen menschlichen Kultur und Geschichte, die uns miteinander heute mehr denn je verbindet; vielleicht werden wir auch den Blick für das Einzigartige und Besondere unserer eigenen Kultur schärfen, sie auf neue Weise lieben lernen, ohne deshalb die anderen Kulturen gering zu achten.

Um eine solche "vergleichende Betrachtung" zu ermöglichen, haben wir uns in diesem Jahr verstärkt um die Teilnahme mecklenburgischer Gruppen bemüht: Dabei scheint es mir interessant festzustellen, dass sowohl die Deutsche Tanzkompanie aus Neustrelitz als auch das Ballettensemble des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin, die Sie in den nächsten Tagen beim Festival werden erleben können, in ihren Reihen auch Künstler aus verschiedenen europäischen und außereuropäischen Ländern aufgenommen haben- auch hier wird die enge Zusammenarbeit mit Künstlern unterschiedlicher kultureller Herkunft offenbar als Bereicherung empfunden.

"Tanz der Kulturen - Zwischen Tradition und Moderne" - das Motto des diesjährigen Festivals will auf das international zu beobachtende Phänomen hinweisen, dass auch und gerade heute bei der Suche nach einer zeitgemäßen, modernen Ausdrucksweise, die die Hoffnungen und Sorgen des Menschen in unserer Zeit widerspiegelt, von den jeweiligen kulturellen Traditionen ausgegangen wird.

Wie Sie sicherlich bereits aus der Presse entnommen haben, stehen wir in Schwerin kurz vor der Gründung eines Hauses der Kultur(en). Ich denke, dass Schwerin damit ein wichtiges Zeichen setzt auf dem Weg zu einer weltoffeneren Stadt. Auch das Festival, so hoffe ich, ist ein kleiner Schritt in diese richtige Richtung.

Ein Schritt, der nicht möglich gewesen wäre ohne die Unterstützung zahlreicher Förderer und Sponsoren: des Kultusministeriums Mecklenburg - Vorpommern, der Landeshauptstadt Schwerin, des Mecklenburgischen Staatstheaters, für die Kultur engagierter Hotels wie der "Speicher am Ziegelsee", das "Europa-Hotel", das "Strandhotel Zippendorf", das Hotel "An den Linden". Nicht zu unterschätzen auch die Unterstützung auf dem Gebiet der Werbung durch den Nahverkehr Schwerin und selbstverständlich die Medien, insbesondere Unser Schwerin, Schweriner express, das NDR-Fernsehen, die SVZ u. viele andere. Nicht zuletzt danke ich allen Künstlern, die trotz unserer eher bescheidenen Mittel ihre Teilnahme am Festival zusagten.

Bei den vielfältigen Veranstaltungen des Festivals wünsche ich Ihnen viel Spass, gute Unterhaltung und möglichst auch das eine oder andere tiefere sinnliche Erlebnis, das man nicht so schnell vergisst, sondern in seinem Herzen bewahrt, um es dann und wann hervorzuholen- auch das brauchen wir in unserer schnellebigen Gesellschaft. Haben Sie den Mut, sich verzaubern zu lassen!

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