Eröffnungsrede zur "Einführung in die Schauspielkunst" - Die erste Theaterwerkstatt bei der Arbeiterwohlfahrt am 02.09.1991 in Schwerin

Ich freue mich sehr, dass das Alternative Theaterprojekt bei Euch solchen Zuspruch gefunden hat, so dass die Werkstatt alles in allem eine beachtliche Teilnehmerzahl vorweisen kann. Ein jeder von Euch kommt aus einem anderen Umfeld, hat unterschiedliche Erfahrungen gemacht, und einige wollen gerade ihre ersten Schritte in die Welt des Theaters machen .- so werdet Ihr auch mit unterschiedlichen Erwartungen in diese Werkstatt hineingehen. Gerade diese Verschiedenheit von Erwartungen und Erfahrungen aber ist es, die den besonderen Reiz des alternativen Theaters ausmacht.

Doch was ist eigentlich Alternatives Theater? Das Alternative Theater will "anderes Theater" sein, anders als das, was man traditionell kennt, was in den großen Sälen, vor immer demselben Publikum stattfindet. Es will nicht mit dem großen Theater konkurrieren oder es gar ersetzen, es verlangt nur sein Recht zu existieren, seine eigene Botschaft zu übermitteln, Erfahrungen auszutauschen, neue Kommunikationsformen zu entdecken und nicht zuletzt auch neue Räume und Zuschauerkreise zu erobern, die das traditionelle Theater normalerweise nicht erreicht. Im Unterschied zum traditionellen Theater leben die Mitglieder einer Alternativen Theatergruppe nicht von ihrer künstlerischen Arbeit, obwohl sie dies eventuell auch könnten. Hier wird das Theater nicht zum "Betrieb", es gibt nicht diese strikte Funktionsteilung, an Stelle des "Betriebs" steht die "Gruppe", das heißt die gemeinsame Arbeit aufgrund freiwilliger Vereinbarungen und gegenseitiger Achtung. Manche meinen, das professionelle Theater sei das gute Theater und das Alternative das schlechte und das sei der ganze Unterschied. Diese Auffassung teile ich überhaupt nicht. Es gibt professionelles Theater, das nicht einmal die Bezeichnung "Amateurtheater" verdient und Laientheater, das dem professionellen theater an Qualität in nichts nachsteht, außer vielleicht, was die Verwendung von Mitteln betrifft, obwohl bisweilen auch der Mangel an Mitteln die Kreativität des Alternativen Theaters herausfordert. Ein Vorzug des Alternativen Theaters ist zweifellos sein experimenteller Charakter bei der Theatralisierung des Lebens. Ein Theater, das nicht experimentell ist, neue Wege sucht und immer wieder erprobt, sich gegebenenfalls auch einmal irrt, verdient nicht die Bezeichnung "Alternatives Theater". Dieses "andere Theater" ist demzufolge eine ständige Quelle der Erneuerung für das Theater im allgemeinen. Das zeitgenössische Theater verdankt den sogenannten "Freien Theatergruppen" nicht wenig. Viele der heute bekannten Gruppen gingen aus dem Alternativen Theater hervor. Die Theaterästhetik sieht sich -nicht zuletzt auch unter dem Druck des Alternativen Theaters- zur ständigen Erneuerung gezwungen, denken wir nur an Formen wie "Agitprop", "Fluxus", "Happening", verschiedene Formen des Tanztheaters oder Formen der "Performance", bei der die verschiedensten Kunstrichtungen integriert werden.

Aber die formale Freiheit des Alternativen Theaters darf nicht verwechselt werden mit Dillettantismus, der der Theaterkunst im Wege steht. Das Laientheater hat genau wie das professionelle Theater seine Spielregeln, Prinzipien und Techniken, die aufmerksam gelernt und befolgt werden müssen. Und so wird auch der Sinn von Werkstätten wie unserer deutlich - ich nannte sie "Einführung in die Schauspielkunst". Das klingt manch einem vielleicht recht bescheiden. drückt aber meinen Respekt gegenüber der Theaterkunst aus, denn in drei Monaten kann man objektiv nicht mehr als eine Einführung geben. Wie müssen also ein Programm absolvieren, für das in einer Theaterschule normalerweise 1-2 Jahre vorgesehen sind. Damit will ich niemandem den Mut nehmen, nur zu bedenken geben, dass es ein langer und beschwerlicher Weg ist bis zum Theater, vor allem, wenn man es ernst meint damit. Unser Ziel ist, nach Ablauf der sechs Monate ein experimentelles Theaterstudio zu gründen, wo nicht nur mit verschiedenen Techniken experimentiert wird, sondern auch verschiedene Arbeiten inszeniert und verbreitet werden. Im Mittelpunkt unserer Anstrengungen steht die Ausbildung des Schauspielers; und wenn ich "Schauspieler" sage, so ist für mich wie für das Publikum gleichgültig, ob es sich um einen Laien oder einen"Profi" handelt. Wer vor das Publikum tritt, muss sein Handwerk beherrschen, und das erfodert Arbeit und Mühe. Wenn man nur will, gibt es im Theater keine Schwierigkeit, die nicht gemeistert werden kann. Wie ich weiß, haben einige von Euch bereits Vorkenntnisse, vielleicht werden ihnen einige der Übungen, die wir machen wollen, bekannt vorkommen, doch etwas Neues wird gewiss auch für sie dabei sein, am besten wäre, wenn wir alle diese "neue Naivität" an den Tag legen würden, die Brecht sich für die Theaterarbeit wünschte, alles Bekannte vergessen, um offen zu sein für neue Erfahrungen. Und natürlich wird es auch Gelegenheiten geben, uns Eure Erfahrungen mitzuteilen, wovon wir alle profitieren werden. Wichtig ist, niemals die Lernbereitschaft zu verlieren. Den absoluten Theaterneulingen rate ich, sich keinesfalls vorzeitig abschrecken zu lassen, und wer nur auf eine Freizeitbeschäftigung aus war, wird zumindest einige interessante Anregungen für das tägliche Leben erhalten.

Da Körper und Stimme die Ausdrucksinstrumente des Schauspielers sind, müssen wir den Blick zu ihnen, zu uns selbst wenden, um unsere Ausdrucksmöglichkeiten zu erkunden, unsere Grenzen und Hemmungen zu überwinden, diesen unseren Ausdrucksapparat zu entwickeln. So werden wir sehen, dass es fließende Grenzen gibt zwischen Theater und Leben, und ein großer Teil der Fortschritte, die wir auf dem Gebiet des Theaters machen werden, wird von unserem Alltagsverhalten, unserer Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Wahrnehmung der uns umgebenden Realität abhängen. Wir arbeiten im Theater mit viel Verstand und Disziplin des Gedankens, aber auch mit Gefühlen und Emotionen, Impulsen, die nicht immer in der Form und zu der Zeit erscheinen, wie wir sie brauchen. Die bevorstehende Arbeit richtet sich gerade auf dieses Ziel - die Instrumente Körper und Stimme auszubilden, für die Aufführung vorzubereiten. Dies erfordert große Konzentration, Aufrichtigkeit, Aufgeschlossenheit und innere Harmonie, ein Zustand, wie er in einer schöpferischen kollektiven Atmosphäre entstehen kann.

Nun, ich will nichts Unmögliches versprechen, so wie einige Leute einem ein neues Leben oder etwas in der Art verheißen, um für einen durchschnittlichen Kurs zu werben. Manchem mag das Theater als Allheilmittel für die Probleme der heutigen Zeit erscheinen - für mich ist es das nicht. Mehr gefällt mir die Auffassung Heiner Müllers, der im Theater "das Laboratorium der sozialen Phantasie" sieht, einen Ort also, wo die Utopie noch möglich ist, ein Ort der kollektiven Kommunikation, der Konfrontation.

Ein Motto der Werkstatt sollte sein: "Jeder kann Theater spielen". An diese Feststellung von Augusto Boal wollen wir uns erinnern. Dies ist möglich, unabhängig von Alter, kulturellem Niveau oder körperlichem Zustand, wenn nur ein fester Wille da ist. Das ist gerade das Wichtige am Alternativen Theater - dass es dem Zuschauer ermöglicht, zum Schauspieler zu werden, die von den Massenmedien angewöhnte passive rezeptive Haltung aufzugeben und sich in ein produktives Element zu verwandeln, teilzunehmen am "Aufstand des Zuschauers", wie Boal es nennt. Doch all diese vorbereitende Arbeit soll auch Spaß machen. Theater ist ein Spiel, das ernsthaft gespielt werden muss, wenn auch nicht ganz so ernsthaft und angespannt wie beispielsweise Fußball. Bewusste Entspannung ist eines der ersten Ziele, die wir erreichen müssen.

Am Ende unserer Werkstatt soll es eine Aufführung geben, eine Zusammenstellung aus Sketchen und kurzen Szenen, die die Teilnehmer mit Hilfe der neuen Kenntnisse und Techniken selbst entwickeln werden.Auf diese Weise können wir das Erreichte darstellen und prüfen und erstmals die Konfrontation mit dem Publikum wagen.

Weitab von jedem Dogmatismus habe ich für die Werkstatt einige Methoden oder auch nur Elemente ausgewählt, die die Schnellebigkeit unserer Zeit überdauert haben und wohl auch künftig angewandt werden, da sie auf der Kenntnis der menschlichen Natur beruhen. Einigen, für die das Theater noch Neuland ist oder die sich nicht so für die Theorie interessieren, haben vielleicht die Namen seltsam geklungen, die auf Plakaten oder in Zeitungsartikeln in dem Zusammenhang auftauchten. Zum einen bezeichnen sie wichtige Abschnitte des Weges, den ich als Künstler zurückgelegt habe, zum anderen stehen sie für das Vorhaben, sich im Rahmen unserer Werkstatt kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen, und das funktioniert bekanntlich nur, wenn man etwas wirklich kennt. So werden wir die Beiträge verschiedener Theaterschaffender nutzen; und ich werde Euch jeweils sagen, auf wen dies oder jenes zurückzuführen ist und warum wir es benutzen. Andere Übungen habe ich aufgrund meiner Erfahrung selbst entwickelt und einige neue werden wir sicherlich in der gemeinsamen Arbeit entdecken.

Ich bin sehr für das bewusste Lernen, aber in der Kunst geht es oftmals über das Bewusstsein hinaus. Entsprechend unserer Erfordernisse wollen wir uns von den Meistern aneignen, was wir brauchen: Teile der Stanislavski-Methode, Elemente von Boal und anderen. Für die Entwicklung der Kunst war und ist ihr internationaler Charakter Voraussetzung. Nationalismus und Chauvinismus haben keinen Platz in der wirklichen Kunst. So ist auch die Entwicklung des zeitgenössischen Theaters undenkbar ohne die Beiträge der russischen Regisseure Stanislavski und Meyerhold, des Polen Grotowski, der Deutschen Brecht und Piscator, des in Dänemark lebenden Italieners Eugenio Barba, des Brasilianers Augusto Boal, des Engländers Peter Brook, des Franzosen Artaud und all der anderen. Und genauso wären die Entdeckungen all dieser Regisseure nicht möglich gewesen, ohne die Beobachtungen und Erfahrungen des außereuropäischen Theaters, die viele der bedeutendsten Regisseure dieses Jahrhunderts dazu gebracht haben, beispielsweise das rituelle Theater der afrikanischen Gemeinschaften, das indische, japanische oder indianische Theater einzubeziehen. Hier kommt es nun darauf an, die Gemeinsamkeiten im Theater aller Kulturen zu finden, universale Sprachen - das heißt allgemeine Verständigungsmöglichkeiten- zu entwickeln, um die Sprachbarrieren zu überwinden und interkulturelle Kommunikationsformen zu schaffen.

Abschließend möchte ich Euch sagen, ich hoffe, Euren Erwartungen gerecht zu werden, die Ihr mit dieser Werkstatt verbindet, zur Schaffung einer Freien Theatergruppe mit hohem ästhetischen Niveau und einer ethischen Grundlag beizutragen, die den inneren Zusammenhalt der Gruppe ermöglicht. Viel hängt natürlich vom persönlichen Einsatz und vom Willen jedes einzelnen ab. Anfangsschwierigkeiten, die wir gemeinsam bewältigen müssen, sind zum Beispiel das Fehlen eines geeigneten Probenraums (wie Ihr sehen werdet, ist unser jetziger für 16 Personen etwas eng) sowie die Finanzierung einiger notwendiger Anschaffungen und anderer anfallender Kosten. Mit persönlichem Engagement und effektiver Arbeit anstatt vieler Worte oder bürokratischer Kleinigkeiten werden wir die zuständigen Stellen, denke ich, am ehesten überzeugen, dass dieses Projekt die Förderung lohnt.

Stanislavski hat einmal gesagt: "In der Kunst kann man nur mitreißen, nicht befehlen." Das ist es, was ich möchte. Ich denke, der Schlüssel für die Entfaltung der künstlerischen Phantasie liegt in jedem von uns. Und damit erkläre ich diese erste Theaterwerkstatt für eröffnet.


Dr. Franklin Rodríguez Abad

Leiter des Projekts "Alternatives Theater"

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